Vastus medialis – Ursache für Knieschmerzen?
Der Musculus vastus medialis wird häufig als Ursache für vordere Knieschmerzen (patellofemorales Schmerzsyndrom) angesehen. In diesem Artikel analysiere ich, ob dem M. vastus medialis wirklich eine Schlüsselrolle in der Behandlung von vorderen Knieschmerzen zu kommt oder nicht. Zunächst stelle ich die Theorie des M. vastus medialis als Verursacher für vordere Knieschmerzen vor. Anschließend wird diese Theorie anhand von wissenschaftlichen Studien untersucht. Darauf folgt ein abschließendes Fazit.
Der M. vastus medialis als Verursacher von vorderen Knieschmerzen
Der M. vastus medialis (VM) ist ein Teil des M. quadrizeps. Der M. quadrizeps besteht aus vier (lateinisch quattuor = vier) Anteilen:
- M. rectus femoris,
- M. vastus intermedius,
- M. vastus lateralis,
- M. vastus medialis und
ist der Strecker des Kniegelenks. 1 Der M. vastus medialis selbst wird in der Literatur nochmals aufgeteilt in den M. vastus medialis longus (oberer Anteil der M. vastus medialis) und den M. vastus medialis obliquus (unterer Anteil des M. vastus medialis, setzt an der Kniescheibe an).Der M. vastus medialis obliquus (VMO) soll eine stabilisierende Funktion auf die Kniescheibe ausüben, der M. vastus medialis longus soll an der Streckung des Kniegelenks beteiligt sein. Jedoch ist strittig, ob diese zwei unterschiedliche Teile tatsächlich existieren. 2
Ein Ungleichgewicht zwischen dem VMO und dem M. vastus lateralis wird von einigen Autoren als Ursache für die Entstehung von patellofemoralen Schmerzen gesehen. 3 Des Weiteren wird ein Muskelabbau (= Atrophie) des VMO oder eine Hemmung (= Inhibition) des VMO als Auslöser einer Kniescheibenfehlstellung gesehen. Durch die Schwäche des VMO kann der M. vastus lateralis einen stärkeren Zug als normalerweise auf die Kniescheibe ausüben und diese aus ihrer normalen Position nach außen ziehen. Es kommt zu einer Kniescheibenfehlstellung bzw. zu einem Maltracking der Kniescheibe. 4 Daher sollte der VMO gekräftigt werden, um eine dynamische Stabilisation der Kniescheibe zu gewährleisten. 5 Spezielle Übungen, die den VMO verstärkt gegenüber dem M. vastus lateralis kräftigen, sollen dazu eingesetzt werden. 6
Die Elektromyographie (EMG) wird dabei benutzt um die relativen Aktivierungsniveaus des VMO und der anderen Quadrizepsmuskeln zu ermitteln. Dabei wird das Verhältnis von VMO zu M. vastus lateralis (VL) Aktivierung (= VMO/VL) gebildet. Eine erhöhte Aktivierung des VMO findet bei einer Übung, dann statt, wenn der Quotient aus VMO/VL größer Eins ist. 7 Um etwaige Muskelungleichgewichte zu trainieren ist es notwendig nur solche Übungen auszuwählen, die eine erhöhte Aktivierung des VMO gegenüber dem M. vastus lateralis bewirken.
Soviel zu der Theorie des VMO als Verursacher von Knieschmerzen. Wir wollen nun schauen, wie die Studienlage zu der Theorie ausschaut.
Probleme der Theorie des VMO als Verursacher von vorderen Knieschmerzen (Patellofemorales Schmerzsyndrom)
In diesem Abschnitt analysiere ich Schritt für Schritt die Bestandteile der Theorie des VMO als Verursacher von vorderen Knieschmerzen bzw. eines patellofemoralen Schmerzsyndroms.
Architektur des VMO
Der Aufbau des VMO, d.h. Muskelansatzlänge, Muskelfaserwinkel und die Stellung der Gliedmaßen zeigen keinen Zusammenhang mit einer Abnutzung des patellofemoralen Gelenks 8. 9 Des Weiteren gibt der Aufbau des VMO keine Hinweise darauf, dass er als aktiver Stabilisator der Kniescheibe fungiert. 10
Ein Unterschied in der Quadrizeps – Anatomie und Muskelzugrichtung zwischen Patienten mit einem patellofemoralen Schmerzsyndrom und Gesunden konnte nicht festgestellt werden. 11
Ein alleiniger Muskelabbau des VMO findet nicht statt. Patienten mit einem patellofemoralen Schmerzsyndrom haben einen atrophierten M. quadrizeps. Vom alleinigen Muskelabbau des VMO kann jedoch keine Rede sein. 12 Auch Patienten mit einer Patellainstabilität zeigen keinen vermehrten Muskelabbau des VMO. 13 Ein isolierter Kraftverlust des VMO, der zu einer Kniescheibenfehlstellung führt, ist daher eher unwahrscheinlich!
Die Studienlage bzgl. der Architektur des VMO zeigt, dass der VMO höchstwahrscheinlich keine (herausragende) Rolle in der Entstehung von Kniescheibenfehlstellungen und daraus folgenden patellofemoralen Schmerzen spielt.
Timingprobleme des VMO
Timingprobleme des VMO beschreibt die verzögerte Aktivierung des VMO gegenüber dem M. vastus lateralis bei Aktivität. 14 Eine verzögerte Aktivierung soll ein Maltracking der Kniescheibe verursachen und damit zu der Entstehung eines patellofemoralen Schmerzsyndroms führen. 15 Dabei wird von einigen Physiotherapeuten versucht durch Training ein normales Timing zwischen dem VMO und dem M. vastus lateralis wiederherzustellen.
Eine Übersichtsarbeit aus dem Jahre 2008 16 kommt zu dem Schluss, dass die durchgeführten Studien zu stark unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Dabei konnte zwar ein Trend ausgemacht werden, dass Patienten mit einem patellofemoralen Schmerzsyndrom Timingprobleme des VMO haben. Jedoch zeigen diese Timingprobleme nicht alle Patienten. Die Forscher kommen zum Schluss, dass die therapeutische und klinische Signifikanz von Timingproblemen des VMO nur schwer abzuschätzen ist. Dieses Ergebnis zeigt, dass die Forschung zu Timingproblemen des VMO eher als schwach zu bezeichnen ist. Einige Studien die in den darauffolgenden Jahren gemacht wurden 17 zeigen wiederum das Timingprobleme des VMO bei einem patellofemoralen Schmerzsyndrom bestehen, während andere Studien 18 keinen oder nur in bestimmten Umständen Veränderungen des Timings des VMO beobachten konnten. Pal et al. 19 zeigen beispielsweise, dass Timingprobleme nur bei schwerwiegendem Maltracking der Kniescheibe auftreten. Briani et al. 20 zeigen, dass Timingprobleme des VMO bei Patienten mit einem patellofemoralen Schmerzsyndrom nur bei den Patienten bestehen, die eine hohe Trainingsbelastung haben. Das könnte vielleicht eine Erklärungsmöglichkeit dafür sein, dass die Studien insgesamt so unterschiedliche Ergebnisse liefern.
Insgesamt zeigt die momentane Studienlage kein einheitliches Bild. Es lassen sich keine definitiven Aussagen darüber machen, ob Timingprobleme des VMO bestehen oder nicht. Des Weiteren möchte ich hier anmerken, dass selbst ein Nachweis über ein Vorliegen von Timingprobleme des VMO kein Beweis dafür ist, dass Timingprobleme ein patellofemorales Schmerzsyndrom verursachen. Es könnte durchaus sein, dass ein patellofemorales Schmerzsyndrom Timingprobleme des VMO verursacht!
Kniescheibenfehlstellungen (Maltracking) führen zu vorderen Knieschmerzen?
Das Kniescheibenfehlstellungen bzw. ein Maltracking der Kniescheibe zu vorderen Knieschmerzen führen ist nach jetzigem Stand der Forschung höchst zweifelhaft. Es konnte bisher nicht gezeigt werden, dass Kniescheibenfehlstellungen zu vorderen Knieschmerzen bzw. einem patellofemoralen Schmerzsyndrom führen. Einige Patienten haben Kniescheibenfehlstellung und haben Schmerzen, andere Patienten haben keine Kniescheibenfehlstellung und haben dennoch vordere Knieschmerzen. Wer sich eingehender mit dem Thema auseinandersetzen möchte, dem empfehle ich meinen Artikel zur Kniescheibenfehlstellung.
Kann man den M. vastus medialis obliquus überhaupt “isoliert” trainieren?
Eine vollkommene Isolation des M. vastus medialis qbliquus ist natürlich nicht möglich. Vielmehr geht es um die Frage, ob der VMO bevorzugt gegenüber den anderen Anteilen des M. quadrizeps trainiert werden kann. Eine Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2009 21 untersuchte 20 Studien mit 387 Teilnehmern. Das Ergebnis der Übersichtsarbeit ist, dass eine bevorzugte Aktivierung des VMO gegenüber dem M. vastus lateralis nicht möglich ist. Die Forscher stellten weiterhin fest, dass die Studien diverse, methodologische Mängel haben. Schaut man sich jedoch die im weiteren Zeitablauf gemachten Studien 22 an, dann stellt man fest, dass diese Studien eindeutig eine Aktivierung des VMO gegenüber dem M. vastus lateralis belegen. Diese Unterschiede zwischen der in 2008 gemachten Übersichtsarbeit und den neueren Studienergebnissen liegt unter anderem an der unterschiedlichen Übungsauswahl der Studien. In den neueren Studien zeigen Übungen, wie tiefe Kniebeugen, tiefe Beinpresse mit Adduktion, Kniebeuge mit Adduktion und Kniebeugen auf instabilen Unterlagen eine erhöhte Aktivierung des VMO gegenüber dem M. vastus lateralis.
Was man jedoch nicht durch diese Studien ableiten kann ist:
- Eine erhöhte Aktivierung, dargestellt durch ein EMG Signal, bedeutet nicht eine höhere Aktivierung von motorischen Einheiten und auch kein größeres Hypertrophiepotiential (=Muskelaufbau-Potential). 23
- Längerfristige (chronische) Anpassungen des Muskels können aus EMG-Studien nicht abgeleitet werden. 24
D.h. EMG Studien können nicht zeigen, ob ein längerfristiges Training mit Übungen, die den VMO stärker aktivieren auch zu einem langfristigen Trainingseffekt (verstärkten Muskelaufbau des VMO) führen.
Des Weiteren zeigen diese Studien nicht, dass eine bevorzugte Aktivierung des VMO zu besseren Ergebnissen bei der Rehabilitation eines patellofemoralen Schmerzsyndrom führt.
Fazit
Der M. vastus medialis obliquus ist nicht die Ursache für vordere Knieschmerzen.
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Notes:
- Der M. rectus femoris verursacht noch eine Hüftbeugung. Damit ist der M. quadrizeps ein zweigelenkiger Muskel, der über Knie und Hüfte zieht. ↩
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- Das Gelenk, dass sich aus Kniescheibe und Oberschenkel bildet. ↩
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