Kinderosteopathie – Hinterfragt!

Kinderosteopathie wird immer mehr  von Seiten der Eltern nachgefragt. Seit dem einige Krankenkassen die Osteopathie und Kinderosteopathie erstatten, haben sich die Ausgaben der Kassen von 2012 auf 2013, um mehr als das Dreifache gesteigert. In einer internationalen Befragung der Osteopathic International Alliance aus dem Jahr 2012 waren 23,4 % der von Osteopathen behandelten Patienten Kinder. 8,7% der Kinder waren jünger als 2 Jahre alt. 1 Des Weiteren finden in einigen Krankenhäusern osteopathische Checkups für Säuglinge als Präventionsleistung statt. Aufgrund dieser Tatsachen sollte man jedoch auch fragen, ob die Kinderosteopathie auch wissenschaftlich plausibel, wirksam und nebenwirkungsarm ist?

Was ist Kinderosteopathie?

Die Osteopathie ist eine Form der Komplementär- oder Alternativmedizin. Unter Einbeziehung von medizinischem Wissen wird eine Vielzahl an Manuellen Techniken für die Befundung, Diagnose und Behandlung des Patienten  angewandt. 2 Ein wichtiger Pfeiler ist die osteopathische, manipulative Behandlung (OMT = osteopathic manipulative treatment), die eine Vielzahl an manipulativen Techniken einsetzt, um sogenannte “somatische Dysfunktionen” zu behandeln. Eine “somatische Dysfunktion” ist definiert als beeinträchtigte oder veränderte Funktion der zusammenhängenden Komponenten des somatischen Systems (skeletal, Knorpel, myofaszial und die vaskulären, lympathisch und neuronalen Elemente). 3 “Eine Besonderheit dabei ist die Berücksichtigung der Säulen der Osteopathie, dass sowohl der Bewegungsapparat (parietales System), die Eingeweideorgane (viszerales System) und die Kopf-Kreuzbein-Achse (craniosacrales System) untersucht und gegebenenfalls behandelt werden.” 4

Auf der Seite der DGKO (Deutsche Gesellschaft für Kinderosteopathie) wird Kinderosteopathie so beschrieben:

” Die Kinderosteopathie ist eine Spezialisierung innerhalb der Osteopathie. Um Säuglinge und Kinder zu behandeln, ist es wichtig, die unterschiedlichen Entwicklungsstufen des Kindes genau zu kennen. Das Wissen um die normale sensorische, emotionale und neurologische Entwicklung des Kindes und die spezielle Kinderpathologie ist notwendig, um Kinder adäquat behandeln zu können. Dann sind Störungen der normalen embryologischen und fetalen Entwicklung und im Schwangerschaftsverlauf gut zu erkennen und zu behandeln.[…] Ein pädiatrisch arbeitender Osteopath verbindet diese Kenntnisse mit seinen palpatorischen Fähigkeiten und wendet sehr sanfte Techniken an, um dem Kind zu einem verbesserten Gleichgewicht und somit zu Wohlbefinden und Gesundheit zu verhelfen. Da uns Kleinkinder nicht durch Sprache vermitteln können, wo ihre Probleme liegen, ist die sorgfältige Überprüfung des gesamten Körpers bei der osteopathischen Behandlung eine große zusätzliche Hilfe in der Beurteilung des Zustands kleiner Patienten.” 5

Wofür wird Kinderosteopathie angewandt?

Die DGKO gibt folgende Indikation für eine kinderosteopathische Behandlung an:

  • Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen
  • Wachstumsstörungen, Entwicklungsverzögerungen (ADS, Lernschwierigkeiten)
  • Verdauungsbeschwerden (Koliken), Urogenitalbeschwerden (Inkontinenz)
  • Schädelasymmetrien, Kieferfehlstellungen
  • Allergien
  • emotionale Traumata (z.B. Geburtstraumata)

Diese Indikationsliste deckt sich mit den untersuchten Krankheiten in diversen Studien zur Osteopathie. 6

 

Wie wissenschaftlich plausibel sind die Grundlagen der Kinderosteopathie?

Die Osteopathie/Kinderosteopathie nimmt an, dass spezifische physiologische Funktionen des Körpers gestört sind und diese wiederhergestellt werden sollten. Diese Annahme ist nicht schwer zu akzeptieren, da jeder pathologische Zustand per definitionem eine physiologische Basis hat. Die Osteopathie nimmt des Weiteren an, dass es eine oder mehrere bestimmbare strukturelle Dysfunktion-(en) (“somatische Dysfunktion”) im Körper gibt, die zu einer Störung des “physiologischen Gleichgewichts” führen. Diese Dysfunktionen können dabei auf parietaler Ebene (Bewegungsapparat), viszeraler Ebene (Eingeweide) oder craniosakraler Ebene (Kopf-Kreuzbein-Achse) existieren. Der Osteopath deckt nun diese Dysfunktionen mit Hilfe von Palpation und Befragung auf und regt durch manuelle Techniken die immanenten (=innewohnenden) Selbstheilungskräfte des Körpers an.

Die Probleme dieses Modells sind vielschichtig:

  • Das Konzept der somatischen Dysfunktion ist aufgrund seiner unklaren Pathophysiologie und unreliablen Auffindbarkeit ist mehr als fragwürdig. 7
  • Viszerale Befundungstechniken sind unreliabel und für viszerale Behandlungstechniken konnte kein Nachweis einer Wirksamkeit gefunden werden. 8
  • Cranio-sacrale Techniken sind biologisch unplausibel, unreliabel und können keine Wirksamkeit nachweisen. 9
  • Wenn der Körper immanente Selbstheilungskräfte hat, wieso müssen diese erst durch manuelle Techniken angeregt werden? Welche Prozesse liegen dieser Annahme zu Grunde?

Die Plausibilität der zugrunde liegenden Annahmen der Kinder-Osteopathie sind problematisch. Es gibt keine Nachweise über die Existenz von somatischen Dysfunktionen oder anderen osteopathisch definierten Dysfunktionen. Wie kann man etwas behandeln, was nicht nachgewiesen ist??

 

Welche Nachweise über die klinische Wirksamkeit der Kinderosteopathie gibt es?

Zunächst einmal muss man festhalten, dass die osteopathische Behandlung von Kindern, wie oben gezeigt, nicht sonderlich plausibel ist. Wie kann man dann die augenscheinliche “Effektivität” dieser Therapie bei Kinder erklären? Was man bei der Beurteilung der osteopathischen Maßnahmen nicht vergessen darf ist, dass es durch die osteopathische Intervention zu einem scheinbaren Therapieeffekt kommt, der sich allein durch unspezifische Kontextfaktoren erklären lässt. Durch erscheint die osteopathische Behandlung für den Beobachter wahre Wunder zu wirken. Jedoch lässt sich so nicht die Wirksamkeit der Osteopathie nachweisen. Dazu benötigt man klinische Studien, die den echten Therapieeffekt ermitteln können.

Betrachtet man die Übersichtsarbeiten zum Thema Kinderosteopathie 10 zeigt sich ein einheitliches Bild. Qualitativ hochwertige Studien können keinen Effekt der Kinderosteopathie nachweisen. Studien mit mangelnder Qualität zeigen hingegen eine Wirksamkeit der Osteopathie.

Die Übersichtsarbeit von Lanaro et al. 11  und Carnes et al. 12 geben als einzige Übersichtsarbeiten positive Effekte der Kinderosteopathie bei Neugeborenen an. Bei Lanaro et al. haben die inkludierten Studien: (a) eine mangelnde Verblindung 13 und (b) werden durch ein  falsch gewähltes  statistische Modell analysiert. Carnes et al. weisen darauf hin, dass die Effekte bei den hochwertigen Studien (mit Verblindung) gegen Null gehen.

 

Kinderosteopathie

 

 

 

Welche Nebenwirkung hat eine Behandlung mit Kinderosteopathie?

Eine Übersichtsarbeit von Todd et al. 14 untersuchte die möglichen Nebenwirkungen von manuellen Therapien bei Kindern. Die Autoren halten folgendes fest:

  • Die Anwendung von Chiropraktik, Osteopathie und Manueller Therapie bergen ein seltenes Risiko schwerer Nebenwirkungen (bis zum Tod) für die Kinder und Säuglinge.
  • 10 von 15 der Fälle mit schweren Komplikationen waren durch Techniken mit Impuls (HVLA) verursacht.
  • Viele der schweren Komplikationen sind aufgrund von unerkannten Erkrankungen entstanden.
  • 775 Fälle von leichten bis mittleren Nebenwirkungen (Muskelkater, Weinen, Kopfschmerzen) wurden festgestellt.
  • Die Autoren empfehlen eine grundlegende Untersuchung der Patienten und die Anpassung der Technik an die Patienten.

Vor dem Hintergrund der mangelnden Wirksamkeitsnachweise der Kinderosteopathie ist das Nutzen-/Kosten-Verhältnis hier als negativ zu bewerten.

 

 Fazit

Kinderosteopathie hat eine geringe wissenschaftliche Plausibilität. Die klinische Wirksamkeit lässt sich bei qualitativ hochwertigen Studien nicht nachweisen. Aufgrund der vorhanden möglichen Nebenwirkungen und der mangelnden Wirksamkeit fällt meine Empfehlung für Kinderosteopathie negativ aus.

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Notes:

  1. Osteopathic International Alliance (OIA). History and Current Context of the Osteopathic Profession: History and Current Context of the Osteopathic Profession, Status Report on Osteopathy Stage I. Chicago, IL: Osteopathic International Alliance.
  2. World Health Organization (WHO). Benchmark for Training in
    Osteopathy: Benchmarks for Training in Traditional/Complementary and AlternativeMedicine. Geneva, Switzerland:World Health Organization; 2010,Osteopathic International Alliance (OIA). History and Current Context of the Osteopathic Profession: History and Current Context of the Osteopathic Profession, Status Report on Osteopathy Stage I. Chicago, IL: Osteopathic International Alliance.
  3. American Association of Colleges of Osteopathic Medicine. Glossary of Osteopathic Terminology.
  4. https://www.kinderosteopathie-osteopathie.de/ueber-osteopathie.html
  5. http://www.kinderosteopathen.de/osteopathie/
  6. Bagagiolo, Donatella, et al. “Osteopathic manipulative treatment in pediatric and neonatal patients and disorders: clinical considerations and updated review of the existing literature.” American journal of perinatology 33.11 (2016): 1050-1054.
  7. Fryer, Gary. “Somatic dysfunction: An osteopathic conundrum.” International Journal of Osteopathic Medicine 22 (2016): 52-63.
  8. Guillaud, Albin, et al. “Reliability of diagnosis and clinical efficacy of visceral osteopathy: a systematic review.” BMC complementary and alternative medicine 18.1 (2018): 65.
  9. Guillaud, Albin, et al. “Reliability of Diagnosis and Clinical Efficacy of Cranial Osteopathy: A Systematic Review.” PloS one 11.12 (2016): e0167823.
  10. Dobson, D., et al. “Manipulative therapies for infantile colic.” (2012), Novak, Iona, et al. “A systematic review of interventions for children with cerebral palsy: state of the evidence.” Developmental Medicine & Child Neurology 55.10 (2013): 885-910, Posadzki, Paul, Myeong Soo Lee, and Edzard Ernst. “Osteopathic manipulative treatment for pediatric conditions: a systematic review.” Pediatrics (2013): peds-2012, Bagagiolo, Donatella, et al. “Osteopathic manipulative treatment in pediatric and neonatal patients and disorders: clinical considerations and updated review of the existing literature.” American journal of perinatology 33.11 (2016): 1050-1054, Carnes, Dawn, et al. “Manual therapy for unsettled, distressed and excessively crying infants: a systematic review and meta-analyses.” BMJ open 8.1 (2018): e019040, Lanaro, Diego, et al. “Osteopathic manipulative treatment showed reduction of length of stay and costs in preterm infants: A systematic review and meta-analysis.” Medicine 96.12 (2017).
  11.  Lanaro, Diego, et al. “Osteopathic manipulative treatment showed reduction of length of stay and costs in preterm infants: A systematic review and meta-analysis.” Medicine 96.12 (2017).
  12. Carnes, Dawn, et al. “Manual therapy for unsettled, distressed and excessively crying infants: a systematic review and meta-analyses.” BMJ open 8.1 (2018): e019040
  13. https://sciencebasedmedicine.org/osteopathy-in-the-nicu-false-claims-and-false-dichotomies/
  14. Todd, Angela J., et al. “Adverse events due to chiropractic and other manual therapies for infants and children: a review of the literature.” Journal of Manipulative & Physiological Therapeutics 38.9 (2015): 699-712.
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