Schützt das richtige Heben von Lasten vor Rückenschmerzen?

Unter richtigem Heben von Lasten wird das Heben aus den Beinen heraus verstanden. Dadurch soll eine Beugung der Lendenwirbelsäule unter Last vermieden werden, um Rückenschmerzen zu vermeiden. Im Folgenden betrachten wir, ob das richtige Heben einen Einfluss auf die Vermeidung von Rückenschmerzen hat oder nicht. Das Heben aus den Beinen heraus wird empfohlen, um den schädlichen Einfluss einer Beugung der Lendenwirbelsäule unter Belastung zu minimieren. Im Folgenden trage ich die Argumente für und gegen das Vermeiden einer Beugung in der Lendenwirbelsäule durch ein Heben aus den Beinen heraus vor. Abschließend folgen eine Zusammenfassung und ein Fazit.

Heben aus den Beinen heraus ist essentiell, um Rückenprobleme zu vermeiden?!?

Beim Heben eines Gewichts ohne (großen) Einsatz der Beine kommt es zu einer deutlichen Beugung der Lendenwirbelsäule. Laut einiger Wissenschaftler 1 führt ein häufiges Beugen und Strecken der Lendenwirbelsäule unter Last zu Bandscheibenvorfällen und Rückenbeschwerden.

Mit Hilfe von Modellversuchen an Schweineskeleten wurde gezeigt, dass es nach einer bestimmten Anzahl an Beugungen und Streckungen der Lendenwirbelsäule zu Bandscheibenvorfällen kommt. 2 Ein Argument gegen diese Forschung ist, dass die Tiermodelle nicht geeignet sind, um sie auf den Menschen zu übertragen. Jedoch zeigen Übersichtsarbeiten und Studien, dass eine deutliche Ähnlichkeit zwischen menschlichen Wirbelsäulen und Wirbelsäulen von Schweinen besteht und diese für biomechanische Studien geeignet sind. 3

Des Weiteren zeigt eine Studie 4 anhand eines Tiermodells, dass bei wiederholter Beugung und Streckung der Wirbelsäule zu einer Verformung (ligamentous creep) der Bänder der Wirbelsäule kommt. Dadurch entstehen Mikroverletzungen der Bänder, ein entzündlicher Prozess setzt ein und Schmerzen entstehen.

Das Halten der Wirbelsäule in einer neutralen Position (Nahe der natürlichen Krümmung der Wirbelsäule (Lordose)) schützt die Wirbelsäule besser als eine gebeugte Position vor Verletzung. 5 Das ist (meist) der Fall, wenn man aus den Beinen heraus ein Gewicht hochhebt.

Beugung und Drehung der Wirbelsäule führen laut einiger Studien 6 zu mehr Rückenschmerzen.

Generell ist das Heben von schweren Lasten ein Risikofaktor für die Entstehung von Rückenschmerzen. Das ist erstmal ein Argument für die Verwendung einer Hebetechnik aus den Beinen heraus. Ältere Übersichtsarbeiten 7 konnten keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen Heben von Lasten und Rückenschmerzen finden. Das ein Zusammenhang zwischen dem Heben von Lasten und Rückenschmerzen besteht, wurde aktuell von Coenen et al. 8 durch eine andere Vorgehensweise in ihrer Metaanalyse nachgewiesen. In dieser Studie wird erstmals der Effekt von Heben auf Rückenschmerzen aufgeschlüsselt in: “die Höhe des Gewichts”, “in die Dauer” und “Häufigkeit” des Hebens. Ergebnis der Studie ist, dass pro 10 kg Gewicht und pro 10 Hebungen am Tag das Risiko an Rückenschmerzen zu erkranken steigt. So ergibt sich beispielsweise ein Risiko von 4,32 Prozent, wenn Gewichte über 25 kg pro Tag gehoben werden. Bei 25 Hebungen am Tag ergibt sich ein Risiko von 3,50 Prozent an Rückenschmerzen zu erkranken.

Es gibt keine Hinweise darauf, dass eine gebeugte Wirbelsäule stärker als eine gerade gehaltene (neutral Position) Wirbelsäule ist. Deshalb kann man auch nachvollziehen, dass einige Forscher empfehlen, eine gebeugte Position der Lendenwirbelsäule zu vermeiden, um eventuelle Gefahren zu vermeiden.

 

Heben aus den Beinen heraus ist überbewertet!?!

Ein andere Betrachtungsweise ist, dass eine Beugung der Lendenwirbelsäule natürlich 9 ist und nicht allein ein Risikofaktor für Rückenschmerzen darstellt. Denkbar ist auch, dass das Heben von leichten Gewichten mit krummen Rücken kein Problem darstellt. Das deckt sich auch mit der oben zitierten Studie von Coenen et al. 10, die ein klare Beziehung zwischen der Höhe der Gewichtsbelastung und Häufigkeit der Hebungen feststellt. Natürlich kann man auch weiter gehen und sagen, dass eine Beugung der Wirbelsäule unter keinen Umständen ein Risikofaktor für Rückenschmerzen ist und andere Faktoren für Rückenschmerzen relevant sind.

Es gibt auch Studien, die zeigen, dass eine neutrale Position der Lendenwirbelsäule keinen Schutz vor einem Bandscheibenvorfall bietet. 11 Das bedeutet, dass es keinen Unterschied macht, ob man mit gebeugter oder gerader Lendenwirbelsäule den Rücken belastet. Es kommt wohl eher auf Faktoren, wie Häufigkeit der Hebung und Gewicht an als auf die Art, wie man ein Gewicht hebt.

Eine Studie von Kingma et al. 12 vergleicht das Heben mit krummen Rücken mit dem Heben aus den Beinen heraus. Sie stellen fest, dass keine der untersuchten Hebepositionen besser als die andere ist.

Das Problem mit den oben aufgeführten Tiermodellen ist, dass diese an Skeletten durchgeführt werden. Das führt zu folgenden Problemen:

  • Es wird der Effekt der Muskulatur auf die Wirbelsäule nicht berücksichtigt. Kräfte, die auf die Wirbelsäule wirken, werden auch über die Muskulatur verteilt. Bei Skelett-Versuchen ist dieser Effekt nicht darstellbar.
  • Des Weiteren wird eine mögliche Anpassungsreaktion des menschlichen Körpers auf Belastung außen vorgelassen. Bandscheiben, Wirbelkörper Bänder usw. passen sich einer Belastung an. Dieser Effekt kann nicht mit Tiermodellversuchen abgebildet werden.
  • Eine Berücksichtigung von Stoffwechselvorgängen fehlt. Durch Beugung und Streckung der Wirbelsäule kommt es zu einem Stoffwechseleffekt, jedoch nur bei Lebenden.
  • Die betrachteten Wirbelsäulen haben im Vergleich zum Menschen zwar eine deutliche Ähnlichkeit, jedoch ist das Bewegungsausmaß zwischen Tier und Mensch unterschiedlich. 13

Eine Beugung der Lendenwirbelsäule ist größtenteils unvermeidbar. Bei dem Heben aus den Beinen kommt es zu einer Beugung der Lendenwirbelsäule um ca. 40 Grad. 14

Die Beugung der Lendenwirbelsäule hat einen positiven Einfluss auf den Stoffwechsel der Bandscheibe und sollte deshalb nicht unbedingt gezielt vermieden werden. 15

Bandscheibenvorfälle sind selten. Ca. 5-10 Prozent der Rückenbeschwerden lassen sich in die Kategorie der Radikulären Syndrome einteilen. Davon sind jedoch nur ein kleiner Teil Bandscheibenprobleme. 16 Mit bildgebenden Verfahren lassen sich bei zunehmenden Alter der Patienten proportional mehr Bandscheibenvorfälle finden. Diese sind jedoch in hoher Zahl ohne Symptome. Sie stellen eher altersbedingten Verschleiß dar, als eine ernsthafte Erkrankung. 17 Damit Bandscheibenprobleme wirkliche Probleme bereiten, müssen noch andere (unbekannte) Faktoren mitbeteiligt sein. Deshalb kann der Ratschlag bestimmte Hebepositionen zu vermeiden unter Umständen kaum einen Effekt auf die Schmerzentstehung im Rücken haben.

Ein Training des “korrekten” Hebens von Lasten führt laut einer Übersichtsarbeit von Verbeek et al. 18 nicht zu einer Reduktion von Rückenschmerzen. Das könnte daran liegen, dass es mehr auf die Faktoren: Höhe des Gewicht, Häufigkeit des Hebens und Dauer des Hebens ankommt.

 

Zusammenfassung und Fazit

  • In biomechanischen Tierversuchen kann gezeigt werden, dass ein “gerader” Rücken stabiler ist und einen schützenden Effekt auf die Bandscheiben hat. Jedoch gibt es auch Studien, die das Gegenteil zeigen.
  • Die untersuchten Tiermodelle sind dem menschlichen Rücken ähnlich und können zu einem besseren Verständnis der Zusammenhänge herangezogen werden. Jedoch werden wichtige Einflussfaktoren (keine Muskeln am Modell, kein Stoffwechsel, keine regenerativen Prozesse) außer Acht gelassen.
  • Es ist kaum (bzw. gar nicht) möglich Lasten vor allem aus tieferen Positionen mit geradem Rücken (neutral Position der Lendenwirbelsäule) zu heben.
  • Eine Beugung der Wirbelsäule hilft den Stoffwechsel der Bandscheibe zu verbessern.
  • Symptomatische Bandscheibenvorfälle sind eher selten. Jedoch haben viele asymptomatische Patienten Bandscheibenvorfälle.
  • Schweres Heben ist ein Risikofaktor für Rückenschmerzen. Dabei kommt es auf die Faktoren Höhe des Gewicht, Häufigkeit des Hebens und Dauer des Hebens an.
  • Training des richtigen Hebens führt nicht zu einer Reduktion von Rückenschmerzen.

 

Schweres Heben und Tragen kann zu Rückenschmerzen führen. Das ist jedoch davon abhängig, wie oft, wie viel und wie lange man trägt. Ob dabei eine gezielte Vermeidung von bestimmten Hebepositionen zu besseren Ergebnissen führt, halte ich für fragwürdig. Es scheint nicht so sehr auf das “Wie” des Hebens als auf das “Wie viel” anzukommen.

 

 

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Ein weiterer sehr guter Artikel in englischer Sprache ist:

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Notes:

  1. Prominentestes Beispiel ist wahrscheinlich der kanadische Professor Stuart McGill. McGill, Stuart M. Low Back Disorders, 3E. Human Kinetics, 2015.
  2. Callaghan, Jack P., and Stuart M. McGill. “Intervertebral disc herniation: studies on a porcine model exposed to highly repetitive flexion/extension motion with compressive force.” Clinical Biomechanics 16.1 (2001): 28-37, Wade, Kelly R., et al. “How healthy discs herniate: a biomechanical and microstructural study investigating the combined effects of compression rate and flexion.” Spine 39.13 (2014): 1018-1028, Drake, Janessa DM, et al. “The influence of static axial torque in combined loading on intervertebral joint failure mechanics using a porcine model.” Clinical Biomechanics 20.10 (2005): 1038-1045, Tampier, Claudio, et al. “Progressive disc herniation: an investigation of the mechanism using radiologic, histochemical, and microscopic dissection techniques on a porcine model.” Spine 32.25 (2007): 2869-2874, Drake, Janessa DM, and Jack P. Callaghan. “Intervertebral neural foramina deformation due to two types of repetitive combined loading.” Clinical Biomechanics 24.1 (2009): 1-6, Marshall, Leigh W., and Stuart M. McGill. “The role of axial torque in disc herniation.” Clinical Biomechanics 25.1 (2010): 6-9, Wade, Kelly R., et al. “Surprise” loading in flexion increases the risk of disc herniation due to annulus-endplate junction failure: a mechanical and microstructural investigation.” Spine 40.12 (2015): 891-901.
  3. Sheng, Sun-Ren, et al. “Anatomy of large animal spines and its comparison to the human spine: a systematic review.” European Spine Journal 19.1 (2010): 46-56, Yingling, Vanessa R., Jack P. Callaghan, and Stuart M. McGill. “The porcine cervical spine as a model of the human lumbar spine: an anatomical, geometric, and functional comparison.” Clinical Spine Surgery 12.5 (1999): 415-423.
  4. Solomonow, M. “Neuromuscular manifestations of viscoelastic tissue degradation following high and low risk repetitive lumbar flexion.” Journal of Electromyography and Kinesiology 22.2 (2012): 155-175.
  5. Gunning, Jennifer L., Jack P. Callaghan, and Stuart M. McGill. “Spinal posture and prior loading history modulate compressive strength and type of failure in the spine: a biomechanical study using a porcine cervical spine model.” Clinical Biomechanics 16.6 (2001): 471-480.
  6. z.B.: Hoogendoorn, Wilhelmina E., et al. “Flexion and rotation of the trunk and lifting at work are risk factors for low back pain: results of a prospective cohort study.” Spine 25.23 (2000): 3087-3092,Van Nieuwenhuyse, An, et al. “Risk factors for first-ever low back pain among workers in their first employment.” Occupational Medicine 54.8 (2004): 513-519, Hoogendoorn, W. E., et al. “High physical work load and low job satisfaction increase the risk of sickness absence due to low back pain: results of a prospective cohort study.” Occupational and environmental medicine 59.5 (2002): 323-328.
  7. Bakker, Eric WP, et al. “Spinal mechanical load as a risk factor for low back pain: a systematic review of prospective cohort studies.” Spine 34.8 (2009): E281-E293,Wai, Eugene K., et al. “Causal assessment of occupational lifting and low back pain: results of a systematic review.” The Spine Journal 10.6 (2010): 554-566, Kwon, B. K., et al. “Systematic review: occupational physical activity and low back pain.” Occupational medicine 61.8 (2011): 541-548.  
  8. Coenen, Pieter, et al. “The effect of lifting during work on low back pain: a health impact assessment based on a meta-analysis.” Occup Environ Med (2014): oemed-2014.
  9. “Warum ist die Lendenwirbelsäule sonst beweglich? Man hätte sie sonst steif konstruiert.”
  10. Coenen, Pieter, et al. “The effect of lifting during work on low back pain: a health impact assessment based on a meta-analysis.” Occup Environ Med (2014): oemed-2014.
  11. Veres, Samuel P., Peter A. Robertson, and Neil D. Broom. “ISSLS prize winner: how loading rate influences disc failure mechanics: a microstructural assessment of internal disruption.” Spine 35.21 (2010): 1897-1908.
  12. Kingma, Idsart, Gert S. Faber, and Jaap H. van Dieen. “How to lift a box that is too large to fit between the knees.” Ergonomics 53.10 (2010): 1228-1238.
  13. Contreras, Bret, and Brad Schoenfeld. “To crunch or not to crunch: An evidence-based examination of spinal flexion exercises, their potential risks, and their applicability to program design.” Strength & Conditioning Journal 33.4 (2011): 8-18.
  14. Kingma, Idsart, Gert S. Faber, and Jaap H. van Dieen. “How to lift a box that is too large to fit between the knees.” Ergonomics 53.10 (2010): 1228-1238 oder Potvin, J. R., S. M. McGill, and R. W. Norman. “Trunk muscle and lumbar ligament contributions to dynamic lifts with varying degrees of trunk flexion.” Spine 16.9 (1991): 1099-1107.
  15. Contreras, Bret, and Brad Schoenfeld. “To crunch or not to crunch: An evidence-based examination of spinal flexion exercises, their potential risks, and their applicability to program design.” Strength & Conditioning Journal 33.4 (2011): 8-18.
  16. Bardin, Lynn D., Peter King, and Chris G. Maher. “Diagnostic triage for low back pain: a practical approach for primary care.” The Medical Journal of Australia 206.6 (2017): 268-273.
  17. Brinjikji, W., et al. “Systematic literature review of imaging features of spinal degeneration in asymptomatic populations.” American Journal of Neuroradiology 36.4 (2015): 811-816.
  18. Verbeek, Jos H., et al. “Manual material handling advice and assistive devices for preventing and treating back pain in workers.” The Cochrane Library (2011).
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