Hallo Tobias,

ich möchte gerne wissen wie die Sherrington Gesetze bzgl. des Dehnen angewandt werden? Wie funktionieren die Sherrington Gesetze? Welche Vorteile ergeben sich dabei für mich?

 

Liebe Grüße

P.

 

Hallo P.,

meine Antwort fällt leider etwas länger aus, da die Sherrington “Gesetze” ein kontroverses Thema sind. Dabei wird vor allem an der Richtigkeit der Gesetze gezweifelt. Ich stelle zunächst die Gesetze dar. Im Anschluss behandle ich die Stimmigkeit der Gesetze und bespreche abschließend den praktischen Nutzen.

Die Gesetze wurden von Sir Charles Sherrington (1857-1952), Physiologe und Nobelpreisträger der Medizin aufgestellt. Die beiden Prinzipien lauten:

“1. Sherrrington I: Postisometrische Dehnung, propriozeptive muskuläre Dehnung, Ermüdungs- oder Entspannungstechnik, CHRS (Contract-Hold-Relax_stretch). Bei dieser Technik wird der zu dehnende Muskel zunächst isometrisch kontrahiert. Im Anschluss an die Kontraktion, die für etwa 10 s beibehalten wird, folgt eine Relaxationsphase mit verminderter Spannung und dadurch verringertem reflektorischem Widerstand bei der Dehnung.

2. Sherrington II: Antagonisten-Hemmung. (reziproke Inhibition (Hemmung)). Bei dieser Technik wird die neuromuskuläre Hemmung der Antagonisten bei Agonistenanspannung ausgenutzt. Das bedeutet, dass der zu dehnende Muskel auf dem Umweg über die Anspannung seines Gegenspielers gehemmt wird und nach der Kontraktion gedehnt werden kann.” 1

 

Wichtig zu bemerken ist, dass die Verbesserung des Bewegungsausmaßes eines Gelenks durch Sherrington I und II über einen Reflexmechanismus innerhalb des Muskels erklärt werden.

Am besten lassen sich die beiden Prinzipien an einem Beispiel verstehen.

 

Beispiel Dehnung der Armbeuger

Zur Dehnung der Armbeuger mit Sherrington I geht man wie folgt vor:

  1. Der Arm wird soweit gestreckt, wie es möglich ist.(Ende des Bewegungsausmaßes)
  2. Dann werden die Armbeuger angespannt, ohne das der Arm sich bewegt. (isometrische Kontraktion) Die Anspannung wird meist 10s gehalten.
  3. Die Anspannung wird gelöst. Die Armbeugermuskeln entspannen sich wieder. Dadurch kommt es zu einer größeren Dehnfähigkeit der Armbeuger.
  4. Man geht weiter in die Dehnung hinein, indem man den Arm weiterstreckt.

 

Die Dehnung der Armbeuger nach Sherrington II geht wie folgt:

  1. Der Arm wird soweit gestreckt, wie es möglich ist.(Ende des Bewegungsausmaßes)
  2. Dann werden die Armstrecker  (Gegenspieler/Antagonisten) angespannt, ohne das der Arm sich bewegt. (isometrische Kontraktion) Die Anspannung wird 10s gehalten.
  3. Durch die Anspannung der Armstrecker (Gegenspieler/Antagonisten) kommt es zu einer Entspannung der Armbeuger.
  4. Die Anspannung wird gelöst. Die Armbeugermuskeln entspannen sich. Dadurch kommt es zu einer größeren Dehnfähigkeit der Armbeuger.
  5. Man geht weiter in die Dehnung hinein, indem man den Arm weiterstreckt.

Natürlich gibt es noch weitere Variationen (Länge der Kontraktion, Einstellung der Dehnung, Stärke der Kontraktion, Atmung, Augenbewegungen etc.) 2 bzgl. der Ausführung der Technik, jedoch geht es hier nur um eine grundsätzliche Erklärung der Technik.

 

Wie funktionieren die Sherrington Gesetze?

Die Erklärung der Sherrington Gesetze, um Bewegungsausmaßerweiterung und Schmerzreduktion herbeizuführen, wird stark kritisiert.

Bei Sherrington I soll es durch eine isometrische (ohne Bewegung) Anspannung des Muskels vor der Dehnung zu einer Abmilderung der Relflexbestandteile 3 der Anspannung (Kontraktion) kommen. Dadurch soll eine Entspannung des Muskels entstehen, die leichteres Dehnen zulässt. Also scheinbar die perfekte Art einen Muskel für weiteres Dehnen zu entspannen.

Dagegen sprechen jedoch folgende Punkte:

  • Eine Studie von Mitchell et al. 4 zeigt, dass eine isometrische Anspannung des Muskels nicht zu einer Entspannung, sondern noch zu mehr Spannung führt.
  • Höhere Zentren dominieren die spinalen motorischen Zentren und setzen sich über die Proprizeptoren 5 hinweg. 6 Man denke nur daran, wenn nach jeder Anspannung eines Muskels es zu einer Entspannung des Muskels kommen würde. Man könnte sich nicht mehr fortbewegen.
  • In Laborstudien lässt sich zwar ein vorübergehender Effekt der Entspannung der Muskulatur nach einer Anspannung zeigen. Jedoch hält dieser nur für einige Millisekunden an. Klinisch ist dieser Effekt also nicht zu nutzen. 7

 

Sherrington II wird auch als reziproke Hemmung (Inhibition) beschrieben. Die obengenannten Argumente gegen Sherrington I gelten auch für Sherrington II. Ein weiterer Punkt ist, dass es bei Bewegung häufig zu Ko-Kontraktionen (Anspannung mehrerer Muskeln) mehrerer Muskeln kommt. Das heißt in unserem obigen Beispiel spannen sich nicht nur die Armstrecker, sondern gleichzeitg auch die Armbeuger an. Eine reziproke Hemmung findet nicht statt. Diese wurde in mehreren Studien bewiesen. 8

 

Zwischenfazit

Die Erklärungen die, die Sherrington Gesetze liefern lassen sich nicht halten. Das heißt jedoch nicht zwangsläufig, dass die praktische Umsetzung der Prinzipien nicht funktionieren.

Zum anderen gibt es weitere Erklärungsansätze, die aufzeigen wollen, dass isometrische Anspannung vor einer Dehnung effektiv ist. Azevedo et al. 9 stellen die Hypothese auf, dass die isometrische Muskelanspannung als Ablenkung wirkt. Dabei zeigen Azevedo et al. in ihrer Studie, dass es ausreicht nicht involvierte Muskeln anzuspannen (z.B. bei der Dehnung der Oberschenkelbeuger wird der Armbeuger angespannt).

Nun stellt sich jedoch noch die Frage, ob isometrische Anspannung der Muskulatur für das Dehnen einen Zusatznutzen bringt oder nicht?

 

Praktischer Nutzen von isometrischen Dehnen

Isometrisches Dehnen ist, wie in meinem Beitrag zum Thema Stretching als Behandlung für einen Tennisarm schon besprochen, kurz- und langfristig effektiver in der Erweiterung des Bewegungsausmaßes als statisches Dehnen. 10 Die Wirkung von isometrischem Dehnen auf Muskelschmerzen ist nicht eindeutig geklärt. 11

 

Zusammenfassung

Zwar können die Sherrington Gesetze nicht plausibel erklären, wie isometrisches Dehnen funktioniert, praktisch hilft isometrisches Dehnen jedoch das Bewegungsausmaß eines Gelenks zu erweitern.

 

 

Weitere Artikel zum Thema

Stretching und Dehnen – Ein Überblick

Faszientherapie – Sinnvoll oder nicht?

 

 

Notes:

  1. Wegner, Uwe, Sportverletzungen: Symptome, Ursachen, Therapie, Hannover: Schlütersche, 2003.
  2. Chaitow, Leon [Ed.], Muscle Energy Techniques, Churchill Livingstone Elsevier, Fourth Edition, 2013, Lewit, Karel, Manipulative Therapy Musculoskeletal Medicine, Churchill Livingstone Elsevier, 2010.
  3. z.B. Das Golgi-Sehnenorgan ist ein Sinnesorgan der Tiefensensibilität. Es ist eine Art Nervengeflecht, das der Messung und Regelung der Muskelspannung dient. Es befindet sich am Übergang zwischen Muskel und Sehne und ist zusammen mit den Muskelspindeln für die Tiefensensibilität (Propriozeption) der Muskulatur zuständig.
  4. Mitchell, Ulrike H., et al. “Neurophysiological reflex mechanisms’ lack of contribution to the success of PNF stretches.” J Sport Rehabil 18.3 (2009): 343-57.
  5. Propriozeptoren gewährleisten die Wahrnehmung der Stellung und Bewegung des Körpers im Raum. Durch sie gelangen Informationen über Muskelspannung, Muskellänge, Gelenkstellung und Bewegung zum Kleinhirn und zum Cortex wo diese unbewusst verarbeitet werden. Zu den Propriozeptoren zählen die Muskelspindel, das Golgi-Sehnenorgan, das Ruffini- und das Vater-Pacini-Körperchen. https://de.wikipedia.org/wiki/Propriozeptor
  6. Lederman, Eyal “Therapeutic Stretching – Towards a functional approach.“ Elsevier Ltd. 2014.
  7. Lederman, Eyal “Therapeutic Stretching – Towards a functional approach.“ Elsevier Ltd. 2014, Mitchell, Ulrike H., et al. “Neurophysiological reflex mechanisms’ lack of contribution to the success of PNF stretches.” J Sport Rehabil 18.3 (2009): 343-57, Chalmers, Gordon. “Strength training: Re‐examination of the possible role of golgi tendon organ and muscle spindle reflexes in proprioceptive neuromuscular facilitation muscle stretching.” Sports Biomechanics 3.1 (2004): 159-183.
  8. Lederman, Eyal “Therapeutic Stretching – Towards a functional approach.“ Elsevier Ltd. 2014, Mitchell, Ulrike H., et al. “Neurophysiological reflex mechanisms’ lack of contribution to the success of PNF stretches.” J Sport Rehabil 18.3 (2009): 343-57, OSTERNIG, LOUIS R., et al. “Muscle activation during proprioceptive neuromuscular facilitation (PNF) stretching techniques.” American Journal of Physical Medicine & Rehabilitation 66.5 (1987): 298-307. 
  9. Azevedo, Daniel Camara, et al. “Uninvolved versus target muscle contraction during contract–relax proprioceptive neuromuscular facilitation stretching.”Physical Therapy in Sport 12.3 (2011): 117-121.
  10. Fryer, Gary, in: Chaitow, Leon [Ed.], Muscle Energy Techniques, Churchill Livingstone Elsevier, Fourth Edition, 2013.
  11. Fryer, Gary, in: Chaitow, Leon [Ed.], Muscle Energy Techniques, Churchill Livingstone Elsevier, Fourth Edition, 2013.
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